und dem ungewöhnlichen Vorschlag, Paulus habe von Hoden gesprochen.
Einleitung
Die Heilige Schrift fordert uns nicht nur durch ihre klaren Worte, sondern oft auch durch Stellen, die schwer zu verstehen sind (2Petr 3,16). Gerade dort gilt es, mit Demut zu lesen, sorgfältig zu deuten und sich dem Wort unterzuordnen. Der Abschnitt 1. Korinther 11,1–16 über die Bedeckung des Hauptes im Gottesdienst ist eine solche Stelle. In einer Zeit, die jede Ordnungsfrage sofort zur Debatte stellt, ist es umso nötiger, diesen Text nicht vorschnell abzutun. Eine klassische Auslegung hilft uns dabei – ebenso wie ein nüchterner Blick auf moderne Hypothesen.
I. Die traditionelle Auslegung
Die klassische Auslegung versteht diesen Text im Horizont antiker Ehrbegriffe und Schöpfungsordnung. Paulus spricht davon, dass der Mann beim Gebet sein Haupt nicht bedecken solle, weil er „Gottes Bild und Ehre“ sei (V. 7), die Frau hingegen solle ihr Haupt bedecken, weil sie „des Mannes Ehre“ sei. Die Kopfbedeckung der Frau wird so zum Zeichen der geordneten Stellung innerhalb der von Gott eingesetzten Ordnung – nicht im Sinne einer Abwertung, sondern als Ausdruck der Ehre des anderen.
Dass Paulus keine Unterdrückung, sondern gegenseitige Bezogenheit im Blick hat, zeigen die Verse 11–12: „Doch ist weder der Mann ohne das Weib noch das Weib ohne den Mann in dem Herrn.“
Siehe auch Die Kopfbedeckung der Frau – ein wichtiges Zeugnis in der Gemeinde
II. Die Schwierigkeit mit Vers 14–15
Die Verse 14 und 15 geben Anlass zur Diskussion:
„Lehret euch nicht auch die Natur, dass es einem Manne eine Unehre ist, wenn er langes Haar trägt? Aber wenn ein Weib langes Haar trägt, ist es ihre Ehre; denn das Haar ist ihr gegeben anstatt eines Schleiers (περιβόλαιον).“
Hier scheint sich ein Widerspruch aufzutun: Wenn das Haar der Frau bereits ein Schleier ist – warum dann noch die Anweisung zur Bedeckung? Manche Ausleger nehmen an, dass Paulus hier ironisch oder hypothetisch spricht; andere vermuten, er wolle lediglich die natürliche Tendenz zur Bedeckung betonen, nicht aber das Gebot aufheben.
III. Eine moderne Deutung: Haar als Genital?
Ein 2004 erschienener Fachaufsatz von Troy W. Martin bietet eine überraschende Erklärung: Das griechische Wort περιβόλαιον, das hier als „Schleier“ übersetzt wird, könne nach antiker Literatur auch die Hoden bezeichnen¹. Martin argumentiert, dass Paulus auf eine antike medizinische Vorstellung Bezug nehme, wonach langes Haar bei Frauen als „saugendes Organ“ fungiere, das den Samen aufnehme – ein funktionales Gegenstück zu den männlichen Hoden. Paulus sage demnach in Vers 15, die Frau habe statt Hoden ihr Haar erhalten – ein „weibliches Genital“, das im Gottesdienst zu bedecken sei.
Das würde die Argumentation kohärenter erscheinen lassen: Wenn weibliches Haar als Genital gedacht ist, wird die Forderung nach Bedeckung in Vers 5 konsequent begründet. Zudem würde sich die Parallele zu alttestamentlichen Reinheitsvorschriften² und zur priesterlichen Schamverhüllung³ ergeben.
IV. Eine kritische Einordnung
So kreativ und textschlüssig diese Deutung erscheinen mag – sie ist aus mehreren Gründen unwahrscheinlich:
- Lexikalisch: Das Wort περιβόλαιον kommt im NT nur noch in Hebr 1,12 vor, wo es eindeutig ein Kleidungsstück bezeichnet. Auch im übrigen antiken Sprachgebrauch ist die Deutung als „Hoden“ äußerst selten und nur in spezifischen metaphorischen Zusammenhängen belegt⁴.
- Kontextuell: Paulus schreibt an eine Gemeinde, nicht an medizinisch gebildete Philosophen. Seine Argumentation ist sonst durchweg verständlich und praxisnah. Eine so komplexe symbolische Genitaldeutung wäre weder für ihn typisch noch für seine Hörer plausibel zugänglich.
- Traditionsgeschichtlich: Weder Kirchenväter noch andere antike Ausleger deuten περιβόλαιον in diesem Sinne. Auch im jüdischen Kontext steht die Bedeckung von Haar im Rahmen kultischer Reinheit, nicht medizinischer Körpertheorie.
- Theologisch: Paulus beruft sich auf die „Natur“ (φύσις), nicht auf spezifische physiologische Systeme. Das spricht für eine intuitive, nicht gelehrte Anthropologie.
V. Schluss
Die Hypothese Martins ist ein interessantes Beispiel moderner Auslegungsversuche, die antike Medizin und Sexualsymbolik zur Erklärung schwieriger Texte heranziehen. Sie erinnert daran, dass biblische Texte nicht im luftleeren Raum stehen. Gleichwohl bleibt festzuhalten: Die Wahrscheinlichkeit, dass Paulus in 1Kor 11,15 mit περιβόλαιον die Hoden meint, ist lexikalisch wie kontextuell gering. Die herkömmliche Deutung als „Bedeckung“ oder „Schleier“ bleibt plausibler – und entspricht der theologischen Linie, die Paulus auch sonst verfolgt: Ordnung im Gottesdienst, Ehrfurcht vor dem Schöpfer und Unterscheidung von Mann und Frau.
Fußnoten
- Troy W. Martin, Paul’s Argument from Nature for the Veil in 1 Corinthians 11:13–15: A Testicle Instead of a Head Covering, in: Journal of Biblical Literature 123/1 (2004), S. 75–84.
- Vgl. z. B. Ex 20,26 („dass man dein Geschlecht nicht sehe“) und die priesterlichen Bekleidungsregeln in Ex 28,42–43.
- Jes 6,2 beschreibt Seraphim, die mit zwei Flügeln das Gesicht und mit zwei die „Füße“ bedecken – „Füße“ ist in der hebräischen Bibel häufig ein Euphemismus für das Geschlechtsteil.
- Siehe dazu Euripides, Herakles furens 1269 sowie Achilles Tatius, Leucippe und Kleitophon 1,15,2, wo das Wort metaphorisch gebraucht wird. Dies ist allerdings weder im allgemeinen Sprachgebrauch noch in der religiösen Sprache üblich.